...um's positiv auszudrücken: Hey, cool, ich bin retro! Warum? Im Moment wird ja sehr viel über Dioxin geredet. Heute steht in der WAZ ein großer Artikel über industrielle Landwirtschaft und Fleischproduktion mit dem Credo - es muß sein, um die Bevölkerung zu ernähren. Warum zieht der Dioxin-Skandal denn so große Kreise? Weil alles um uns herum immer größer wird. Früher gab es wesentlich mehr Futterproduzenten, wenn da einer kriminell wurde, war der Schaden nicht so groß wie heute. Die industriellen Dimensionen der Ernährungswirtschaft machen mir schon ein wenig Angst.
Früher gab es auf dem Bismarckstraße in Gelsenkirchen - der Verbindung vom Stadtteil Erle bis zum Anfang der Innenstadt, dem "Stern", 17 Metzgereien. Auch die Fleischerei Hahn hatte (und hat noch) dort ihr Stammhaus. Alle hatten ein Auskommen, und wer fleissig war und gute Produkte herstellte, war ein gemachter Mann. Und heute? Jetzt sind wir höchstens noch zu dritt. Und das mit wesentlich weniger Umsatz. Ich will nicht klagen, uns gibt es ja noch. Aber die anderen meiner Zunft sind heute keine Konkurrenten mehr, sondern Kollegen, die ich unterstütze wo ich kann. Vielfalt? Kaum noch. Eigener Geschmack? Immer weniger. Die ganz großen Ketten sind nun die Nahversorger der Wahl des Kunden. Ich kann in meinem Laden auch nicht mit der Auswahl eines 6000 Quadratmeter großen Supermarktes mithalten.
Vor kurzem habe ich mal eine industrielle Wurstfabrik besucht - die Softwarefirma, die unsere Warenwirtschaftssoftware herstellt, hatte eingeladen sich die neue Lagerhaltungs- und Kommissionssoftware im Betrieb anzusehen. Wie ein kleines Kind stand ich mit offenem Mund vor 20 Hochregallagern - jedes 10 Meter hoch - zwischen denen mit 120 Stundenkilometern Kommissionsroboter hin- und herflitzten und Ware sammelten. Alles vollautomatisch und computer-wegeoptimiert. Einlagerung, Inventur, Kommission, Packen, Auslagerung - alles vollautomatisch. Der Technikbegeisterte in mir staunte, was möglich ist. Ich habe nach der Kommissionsleistung gefragt und mit uns verglichen - bei uns wird anhand der handgeschriebenen Bestellscheine, am Telefon aufgenommen, von Hand verpackt, in Kisten gepackt, etikettiert und verwogen:
Wir schaffen gerade mal 1/5 der Menge. Mit Menschen, die arbeiten.
Dort stehen am Ende der Kette 6 Arbeiter, die von Roboter bepackte Rollwägen durchzählen und zur Laderampe schieben. Gespräche untereinander? Während der Arbeit so gut wie unmöglich.
Zuhause angekommen packte mich ein ungutes Gefühl. Menschlichkeit? Kommunikation? Sehr wenig. Mich treibt die bange Frage um: bei so viel Effizienz, wo ist da unsere Überlebensberechtigung als Fleischerei? Da bin ich bin schon ein wenig stolz, dass wir es bis hierhin überhaupt geschafft habe und 130 Familien einen Arbeitsplatz bieten können, manchen Mitarbeitern schon bald 40 Jahre lang.
Ich freue mich jedenfalls über gute, selbstgemachte Wurst aus gutem Fleisch und guten Gewürzen. Am Wochenende backe ich mir ein Sauerteigbrot - und freu mich jetzt schon auf das warme Brot, bestrichen mit guter Butter und belegt mit unserem Frühstücksschinken. Echt "retro" eben. Dann geht die Sonne auf!